Hallo,
vielen - wenn auch stark verspäteten - Dank für diesen Hinweis, der es mir ermöglicht hat, dieses Buch auf meinen diesjährigen Wunschzettel an den Weihnachtsmann zu setzen, welcher es dann auch für mich in seinem Sack hatte.
Zunächst ist zu diesem Buch zu sagen, dass es (in heutiger Zeit) schon sehr verwundert, dass auf dem Cover und Innentitelblatt als Autorin nur Anne Goscinny steht. Dass sie in weiten Teilen hier Geschichten von René Goscinny und Sempé eingeflochten hat, kommt durch den Untertitel "Die Geschichte der Freundschaft von GOSCINNY & SEMPÉ" (nur) begrenzt zum Ausdruck. Noch gravierender finde ich aber, dass der Zeichner des Kleinen Nick in diesem Buch nicht genannt wird. Das mutet schon fast wie ein Rückschritt in die 1980er Jahre an, wo Comiczeichner den Verlagen teilsweise noch keiner Nennung würdig erschienen.
Dass der Zeichner Fabrice Ascione ist, kann man erst nach eingehenderem Studium des Buchinhalts erfahren. Im Impressum wird er genannt. Dort heißt es: "Adaption von Anne Goscinny und Fabrice Ascione", noch ohne dass klargestellt wird, wer welche Aufgaben bei dem Werkschaffen übernommen hat. Aus dem (literarisch aus dem Blickwinkel des Kleinen Nick erzählten) Autorenportrait am Ende des Buches, ergibt sich dann dessen Stellung. Dort heißt es: "Fabrice, das ist mein neuer Kumpel, er ist im Dezember 1970 geboren und er wird mich ab jetzt immer zeichnen". Diese Beschreibung wirft zudem die frage auf, ob Anne Goscinny beabsichtigt, in Zukunft mit Fabrica Ascione neue illustrierte Kleiner Nick Geschichten zu verfassen und herauszubringen. Beantwortet wird diese in dem Buch nicht weiter.
Allerdings geht aus seiner letzten Seite hervor, dass es "auf dem Drehbuch zu einem Trickfilm" basiere. Tatsächlich war wohl Ende letzten Jahres - also 2022 - ein Trickfilm mit dem Titel "Der Kleine Nick erzählt vom großen Glück" (der damit leicht von dem Buchtitel "Der Kleine Nick und das große Glück" abweicht) in den Kinos (
https://www.cinema.de/film/der-kleine-n ... 64353.html). Das war komplett an mir vorbeigegangen und ergibt sich auch nicht aus der Seite des Diogenes-Verlags zu dem Buch. Lustigerweise ist der Trailer zu dem Film auf der DVD zu "Asterix & Obelix - Im Reich der Mitte" drauf (die der Weihnachtsmann mir ebenfalls wunschgemäß gebracht hat).
Weiterhin erstaunen kann einen zunächst, dass auf dem Titelblatt als deutsche Übersetzer Hans Georg Lenzen und Friederike Kohl genannt werden, denn ersterer - der den Kleinen Nick bislang immer übersetzt hatte - ist bereits 2014 verstorben:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Georg_Lenzen
Seine Nennung als Mitübersetzer rechtfertigt sich allerdings aus der Machart des Buches. Dieses beinhaltet eine etwas seltame Mischung aus - durchgehend in der Erzählweise des Kleinen Nick gehaltenem - Dialog mit seinen Schöpfern René [Goscinny] und Jean-Jacques [Sempé] sowie bekannten Kleiner Nick-Geschichten, die immer wieder eingeflochten sind (und ja bereits in Übersetzung von Hans Georg Lenzen vorlagen). Auf diese Weise werden ein paar Grundinformationen zur Entstehungsgeschichte der Serie sowie Hintergründe der Autoren gegeben, aber auch altbekannte Geschichten wiederholt. Insofern gehen hier Fiktion und Realität ineinander über. Das mag künstlerisch interessant und von der Idee her exquisit sein. Die Kehrseite ist allerdings, dass in Grenzbereichen kaum ersichtlich ist, was nun eigentlich Fiktion ist und was zeitgeschichtlicher Quellenlage - etwa auch durch Wahrnehmungen der Autorin Anne Goscinny selbst - entspricht. Diese Frage stellt sich immer wieder vor allem dann, wenn die Schöpfer René Gsocinny und Jean-Jacques Sempé über ihre Gefühlslagen sprechen und Beziehungen zwischen ihrem eigenen Erleben der Kindheit und der Erschaffung des Kleinen Nick - und damit ihrer Motive für Charakterzüge oder Themen - herstellen.
Der Tod Jean-Jacques Sempés wird in dem Buch noch nicht angesprochen. Das ist insoweit erklärlich, als er erst am 11.08.2022 verstorben ist (
https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Jacques_Semp%C3%A9) und damit möglicherweise erst nach Readktionsschluss. Dass es allerdings in dem Autorenportrait zu René Goscinny heißt, seine Serie
Dingodossiers gebe es nicht auf Deutsch, ist nicht in solcher Weise erklärlich, da die Dingossiers-Gesamtausgabe bereits 2016 auf Deutsch erschienen (und z.B. bei Amazon auch heute noch lieferbar) ist. Zudem wird der deutsche Titel des Lucky Luke-Films aus den Studios Idéfix mit "Sein großer Trick" (richtig: "Sein größter Trick") falsch wiedergegeben. Zusammengenommen stellen diese Fehler ein wenig die Sorgfalt bei der Übersetzung infrage. Dass Adalbert in einer Geschichte die Deutschland-Karte zeichnet, weil er diese mit ihren Flüssen auswendig kennt, in der Illustration aber die Frankreich-Karte (mit Lupe an bezeichnender Stelle!) gezeigt wird, mag hingegen daran liegen, dass es eine nach Deutschland übertragene Originalübersetzung der betreffenden Kleiner Nick Geschichte ist, die von Hans Georg Lenzen unverändert übernommen wurde, während hier eine neue Frankreich-bezogene Zeichnung hinzugekommen ist, die in der Originalausgabe dieser Geschichte nicht vorhanden war.
Die Zeichnungen sind insgesamt durchaus warm und liebevoll, stilistisch aber schon sehr verschieden von den skizzenhaften und einprägsamen Zeichnungen Sempés. Positiv gewendet könnte man sagen, dass Fabrice Ascione keinen Versuch unternimmt, Sempé zu kopieren, sondern seinen eigenen Stil prägt. Die Kehrseite ist, dass man den Kleinen Nick und seine Umwelt nicht mehr so sieht, wie man sie kennt.
Ich persönlich fand das Buch zwar kurzweilig zu lesen, muss aber einräumen, dass es mir bis zum Schluss schwergefallen ist, in das Setting einer Interaktion zwischen der Figur und seinen Schöpfern einerseits und dem Erleben der Geschichten mit seinen Freunden andererseits einzutauchen. Das ist weder mit der Lektüre reiner Kleiner Nick Geschichten noch mit der Lektüre eines Sekundärwerks über die Entstehung des Kleinen Nicks und die Hintergründe seiner Autoren vergleichbar. Das Buch ist nicht grottenschlecht, aber so recht meins ist diese Mischung eben auch nicht. Vielleicht liegt es ein wenig mit daran, dass mir die Hintergründe zumindest René Goscinnys nicht mehr neu waren, wahrscheinlich ist es aber ganz überwiegend einfach Geschmackssache.
Gruß
Erik